Der Skandal um das Wahlrecht in Neukölln
Am 17. Dezember 1908 kam es im Rathaus Rixdorf zu einem aufsehenerregenden politischen Ereignis, das den Konflikt um das preußische Dreiklassenwahlrecht verdeutlichte. Der Stadtverordnete Rahnig und seine bürgerlichen Fraktionskollegen standen an diesem Abend einer wachsenden Zahl von wütenden Sozialdemokraten gegenüber, die den Ablauf der Versammlung störten und die Kontrolle übernahmen. Die Arbeiter, die sich auf der Tribüne und draußen auf der Straße versammelt hatten, beschimpften die bürgerlichen Politiker als „Wahlrechtsräuber“ und zwangen die Sitzung zu einer Unterbrechung, die erst durch das Eingreifen der Polizei beendet werden konnte.
Der Konflikt entzündete sich am preußischen Dreiklassenwahlrecht, das die Einteilung der Wahlberechtigten in drei Gruppen basierend auf ihrem Einkommen vorsah. Obwohl die meisten Wähler in der dritten Gruppe – vor allem Arbeiter und Männer mit geringem Einkommen – vertreten waren, hatten die wohlhabenderen Bürger in der ersten Gruppe eine überproportionale Vertretung in den Parlamenten. Selbst wenn die SPD mehr Stimmen erhielt, bekam sie weniger Sitze aufgrund ihrer Wählerschaft in der dritten Gruppe.
Die Stadt Rixdorf, mit ihrer wachsenden Bevölkerung von über 200.000 Menschen, war eine Hochburg der SPD. Arbeiter, Dienstboten und Geringverdienende lebten in Mietskasernen und bildeten das Rückgrat der sozialdemokratischen Bewegung. Die SPD und ihre Anhänger waren gut organisiert und vernetzt, wodurch sie eine starke politische Präsenz in der Region etablierten.
Die Politiker der SPD forderten eine Reform des Wahlrechts, um gleiche und geheime Wahlen zu ermöglichen. Ein gleiches Wahlrecht würde sicherstellen, dass jede Stimme denselben Wert hat, unabhängig vom Einkommen des Wählers. Zudem sollten geheime Wahlen verhindern, dass Arbeiter und Angestellte Repressalien für ihre politischen Entscheidungen befürchten mussten.
Die Bürgerlichen, die von dem bestehenden Wahlrecht profitierten, sahen die wachsende Macht der SPD als Bedrohung an und versuchten, diese einzudämmen. Trotz ihrer Mehrheit im Rathaus fürchteten sie die „rote Gefahr“ und setzten sich für eine Reform ein, die ihre Vormachtstellung weiter stärken sollte.
Die Ratssitzung am 17. Dezember war von Protesten, Zwischenrufen und Gelächter geprägt, als der bürgerliche Stadtverordnete Rahnig den Antrag stellte, die Einkommenssteuergrenze für Wähler der ersten und zweiten Gruppe zu erhöhen, um die Stimmen der SPD einzuschränken. Die SPD-Abgeordneten reagierten empört und unterbrachen die Reden der Bürgerlichen.
Die Medien berichteten von den tumultartigen Szenen in der Rixdorfer Stadtverordnetenversammlung und sprachen von „rotem Terror“ und „sozialdemokratischen Exzessen“. Trotz des Protests der Arbeiter und Sozialdemokraten stimmte die konservative Mehrheit für den Antrag, und das Dreiklassenwahlrecht blieb vorerst bestehen.
Erst mit der Einführung der Weimarer Republik wurde das Dreiklassenwahlrecht durch ein gleiches und geheimes Verhältniswahlrecht abgelöst. Diese Reform war ein wichtiger Schritt hin zu faireren und demokratischeren Wahlen, die bis heute gültig sind.
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Studierenden des Masterstudiengangs Public History an der FU Berlin, neukoellner.net und dem Museum Neukölln erstellt.