Kampf gegen ALS: Gabriele (55) und ihre Geschichte der Hoffnung
Die unheilbare Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) gilt als selten, doch die Muskellähmung ist weiter verbreitet, als viele denken. Gabriele Engel gehört zu den Betroffenen. In ihrem Körper kann sie kaum noch einen Muskel bewegen.
Die 55-jährige Gabriele Engel wird von ihrem Ehemann Thomas mit einem ungewöhnlichen Hilfsmittel ins Wasser des Riemer Sees gebracht – einer faltbaren Schubkarre. Mit Schwimmnudeln aus Schaumstoff und der Unterstützung ihres Mannes kann sie an der Oberfläche des Sees treiben, der nicht weit von ihrem Zuhause im Münchner Osten entfernt ist.
ALS hat Gabriele Engel die Fähigkeit genommen, die meisten ihrer Muskeln zu bewegen. Sogar ihre Zunge ist gelähmt. Ihre Arbeit als Beamtin im gehobenen Dienst musste sie bereits aufgeben. Mithilfe eines Computers, der Augenbewegungen in Sprache übersetzt, formuliert sie ihre Erinnerung an den Badeausflug: „Wir genießen die schönsten Momente.“
Lebensqualität bewahren
Medizinprofessor Paul Lingor vom Klinikum rechts der Isar der TU München kennt viele Patienten, bei denen die Krankheit ähnlich verläuft wie bei Gabriele Engel. Es gibt fast vollständig gelähmte ALS-Patienten, die sogar mit Augensteuerung noch eingeschränkt arbeitsfähig sind. Lingor erklärt: „Wenn es um geistige Leistungen geht, ist vieles möglich.“ Er ist überzeugt, dass viele Patienten ihr Leben als lebenswert empfinden.
Dennoch weist Lingor darauf hin, dass Patienten wie der weltbekannte Physiker Stephen Hawking, der rund ein halbes Jahrhundert mit ALS lebte, eine seltene Ausnahme sind. „Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt drei bis fünf Jahre nach Symptombeginn“, erklärt Lingor. Es gibt keine wirksamen Medikamente, die die Krankheit stoppen oder heilen können. Selbst die Ursachen von ALS sind noch nicht vollständig verstanden.
Krankheit im Abseits
Lingor betont, dass die Lebensqualität von ALS-Patienten erheblich verbessert werden könnte, wenn mehr Ressourcen in die Forschung und Versorgung investiert würden. Er hebt hervor, dass ALS zwar selten ist, aber nicht so selten, wie viele glauben. In Deutschland erkrankt laut Lingor statistisch gesehen einer von 400 Einwohnern an der tödlichen Krankheit.
Vor etwa zehn Jahren erlangte die Krankheit für kurze Zeit öffentliche Aufmerksamkeit durch die „Ice-Bucket-Challenge“, die von den USA ausging. Gesunde Menschen sollten sich einen Eimer Eiswasser über den Körper schütten und Spenden sammeln. Doch nach dieser Aktion ließ das Interesse an ALS wieder nach, ebenso wie die Spenden für Selbsthilfegruppen.
Stigmatisierte Patienten
Der Mediziner erlebt oft, dass ALS-Patienten ausgegrenzt werden. Menschen, die nicht mehr alleine essen oder sich anziehen können, machen stigmatisierende Erfahrungen. Thomas Engel berichtet von irritierten Blicken, wenn er mit seiner gelähmten Frau in einem Restaurant ist. Er betont: „Wer sich ekelt, kann sich woanders hinsetzen.“
Auch Jana Richter, deren Ehemann an ALS verstarb, hat negative Erfahrungen gemacht. Passanten ließen sie allein, als ihr Mann auf der Straße stürzte, weil sie ihn für betrunken hielten. Richter gründete daraufhin die ALS-Hilfe Bayern, um Betroffenen zu unterstützen.
Selbsthilfe professionalisiert sich
Die ALS-Hilfe Bayern, die bisher ehrenamtlich arbeitete, kann dank der Finanzierung durch die Fernsehlotterie ihre Beratungsarbeit professionalisieren. Mitarbeiter sollen Patienten und Angehörigen helfen, mit der Diagnose umzugehen. Diese Beratung ist entscheidend, wie Alexander Necker betont. Obwohl er noch sprechen kann, sind seine Arme und Beine gelähmt. Er sagt: „Es gibt viele Hilfsmittel, aber keiner sagt dir, wie du sie bekommst.“ Die Entscheidungswege bei Krankenkassen sind oft langwierig.
Das Ehepaar Engel und Alexander Necker sind sich einig: ALS ist eine niederschmetternde Diagnose, aber sie raubt einem nicht den Lebensmut. Necker betont: „Die Krankheit ist schrecklich, aber ich möchte das Leben spüren, den Wind, die Sonne. Denn am Ende des Tages: Ich lebe, ich bin hier.“
von Nikolaus Nützel, dpa