Das Geschäftsmodell Deutschlands in Gefahr: Industrie schlägt Alarm
Die Industrie in Deutschland hat seit langem über Wettbewerbsnachteile gegenüber der internationalen Konkurrenz geklagt. Doch eine neue Analyse zeigt, dass sich die Situation verschärft hat. Droht eine Deindustrialisierung?
Die deutsche Wirtschaft schlägt Alarm. Sie sieht den Standort Deutschland mehr denn je unter Druck. Laut einer Studie des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) ist rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung gefährdet. Um international wettbewerbsfähig zu bleiben, sind bis 2030 zusätzliche private und öffentliche Investitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro erforderlich.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm bezeichnete die Lage in Deutschland als erschütternd. Im internationalen Vergleich sei Deutschland in den letzten Jahren fast überall zurückgefallen und stehe vor einem fundamentalen Standortproblem. „Das Risiko einer Deindustrialisierung durch die stille Abwanderung und Aufgabe vieler Mittelständler nimmt kontinuierlich zu und ist teilweise bereits eingetreten“, warnte Russwurm.
Weckruf der Industrie
Im Auftrag des BDI haben die Strategieberatung Boston Consulting Group und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine umfassende Analyse über die Schwächen und Chancen der deutschen Industrie vorgelegt. Die Ergebnisse sind alarmierend und ähnlich wie ein Bericht von Mario Draghi über die Lage in der EU. Draghi betonte, dass die europäische Wirtschaft deutlich innovativer werden müsse, um nicht den Anschluss an die USA oder China zu verlieren.
Die Ergebnisse der Studie wurden als Weckruf für Deutschland bezeichnet. „Die Probleme im Land häufen sich“, sagte Russwurm. Die Industrie trage mit rund 20 Prozent der Bruttowertschöpfung einen erheblich größeren Beitrag zum Wohlstand des Landes bei als in den meisten anderen entwickelten Volkswirtschaften. „Aktuell ist jedoch das Geschäftsmodell Deutschlands ernsthaft in Gefahr.“
„Nicht auf KI-Revolution vorbereitet“
Im internationalen Vergleich nannte Russwurm höhere Energiepreise, eine marode Verkehrsinfrastruktur, ein nicht wettbewerbsfähiges Steuersystem und politische Unsicherheiten als Herausforderungen. Hinzu kämen hohe Arbeitskosten, zunehmender Arbeitskräftemangel, eine umfangreiche Bürokratie, ein langsamer Ausbau der Stromnetze und eine schleppende Digitalisierung.
Ein Beispiel ist die unzureichende Glasfaserabdeckung, die für moderne digitale Anwendungen notwendig ist. Deutschland liegt mit nur 39 Prozent weit hinter Ländern wie Spanien oder Frankreich zurück. „Deutschlands digitale Infrastruktur ist damit denkbar schlecht auf die bevorstehende KI-Revolution vorbereitet“, heißt es in der Studie.
Säulen geraten ins Wanken
Im Gegensatz zur Vergangenheit können diese Wettbewerbsnachteile immer weniger durch die traditionellen Stärken der deutschen Industrie ausgeglichen werden – Produktivität und Innovationen. „Mehrere Säulen des bisherigen deutschen Industrieerfolgs sind gleichzeitig ins Wanken geraten: Die Zeit günstiger fossiler Gasimporte ist mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wahrscheinlich vorbei“, so die Studie.
Besonders die deutsche Automobilindustrie und Unternehmen im fossilen Anlagenbau sehen sich einem schrumpfenden Weltmarkt für ihre Kerntechnologien gegenüber. Ohne entschlossenes Handeln droht Deutschland eine schleichende Deindustrialisierung, bei der energieintensive Industriesektoren ihre Produktion allmählich an andere Standorte verlagern, die Automobilindustrie Marktanteile bei der Elektromobilität verliert und deutsche Unternehmen bei Zukunftstechnologien ins Hintertreffen geraten.
Neuerfindung als Industrienation
Russwurm forderte von der Politik einen „großen Wurf“, um Deutschland im internationalen Wettbewerb wieder in die Spitze zu bringen und die Ziele für die klimafreundliche Transformation der Wirtschaft zu erreichen. Branchen wie die Stahlindustrie müssen ihre Produktionsprozesse umstellen.
Die Studie betont, dass Deutschland sich als Industrienation neu erfinden muss. Der Umbau erfordert eine der größten Transformationsanstrengungen seit der Nachkriegszeit.
Hohe Kosten
Die genannten 1,4 Billionen Euro an Investitionen nannte Russwurm „irre viel Geld“. Doch ein Scheitern der Transformation wäre noch teurer. Die Summe umfasst erhebliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Gebäude sowie die Verringerung von Abhängigkeiten in den Lieferketten kritischer Produkte und die „grüne“ Transformation der Industrie.
Obwohl gut zwei Drittel der Investitionen aus dem privaten Sektor stammen, fehlen bisher staatliche Anreize, um Unternehmen zur Investition zu bewegen. Deutschland hat gute Ausgangsbedingungen in den Bereichen Klimatechnologien, industrielle Automatisierung und Gesundheit, um neue Industriewertschöpfung aufzubauen.
Pläne der Regierung reichen nicht aus
Die Wirtschaft steckt derzeit in einer Wachstumsschwäche. Die Bundesregierung arbeitet an einer „Wachstumsinitiative“, die Verbesserungen bei Abschreibungen von Investitionen, den Abbau von Bürokratie und Anreize für längeres Arbeiten vorsieht. Der BDI hält diese Pläne jedoch für unzureichend. Der Verband fordert grundlegende Reformen bei Steuern und Energie, insbesondere zielgerichtete finanzielle Unterstützung für die energieintensive Industrie und besseren Zugang zu CO2-armen Energieträgern.